Vor ein paar Monaten sagte ich noch zu meinem besten Freund: „Ganz ehrlich, wenn ich morgen sterben würde, wäre ich echt unzufrieden damit, wie ich meine letzten Jahre gestaltet habe!“ Was für mich damals nur ein Ausdruck meiner Unzufriedenheit mit dem extremen Fokus auf meine Arbeit war und fast schon mehr wie ein Kalenderspruch a la „Leben jeden Tag als wäre es dein letzter“ anmutete, hat mich doch tatsächlich unerwartet wieder auf meiner Reise eingeholt: die Beschäftigung mit dem Tod.
Schon seit längerem schlummert auf meinem E-Book-Reader das Buch „Existenzielle Psychotherapie“ von Irvin D. Yalom. Vor einigen Wochen habe ich es zu Hand genommen, da es mich doch sehr interessierte, wie man existenzielle Themen wie den Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit produktiv in die Therapie einweben kann. Worauf ich nicht vorbereitet war, ist die spannende Selbstreflexion, in die mich das Buch gestürzt hat. In meinem Reisetagebuch füllen sich nun die Seiten mit meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Tod (weiter bin ich noch nicht, das Buch hat 700 Seiten 😉).
Allerdings drängte sich während meiner Lektüre auch noch ein Gedanke auf. Die meisten Menschen mit Abhängigkeitserkrankung werden in der Regel sehr stark vom Tod begleitet und mit ihm konfrontiert. Ein Abhängigkeitssyndrom kann ohne eine Behandlung tödlich enden. Viele meiner Klienten hatten aufgrund von Überdosierungen Nahtoderfahrungen. Aber nicht nur der eigene Tod, auch der Tod von Freunden, mit denen gemeinsam konsumiert wurde, webt sich in viele Sucht-Biografien und hinterlässt nicht selten Traumata, mit denen sich die betroffene Person konfrontiert sieht.
Wenn man sich das mal überlegt, frage ich mich, warum die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht einen Part meiner Ausbildung als Suchttherapeutin eingenommen hat. Vielleicht zu philosophisch?
Warum es sich lohnt, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen?
Sterben werden wir alle einmal. Auch wenn das jedem klar ist, ist der Umgang mit diesem Wissen doch sehr unterschiedlich. Ich selbst habe gemerkt, dass ich eher ein Bogen um das Thema gemacht habe, sei es in der Therapie oder in meinem Privatleben. Warum sich mit dieser schmerzhaften Erfahrung auseinandersetzen, wenn es mich ja jetzt nicht betrifft (so zumindest immer die Hoffnung).
Doch wenn man mal einen Schritt zurückgeht und sich bewusst dem Thema widmet, können sich spannende Entwicklungen ergeben. Unterbewusst war es mir vielleicht damals schon klar, als ich meinem Freund die Unzufriedenheit über meinen damaligen Alltag mitteilte. Durch das Bewusstmachen einer begrenzten Existenz („Wenn ich morgen sterben würde …“) wurde es mir plötzlich deutlich, dass ich mit ein paar Entscheidungen wirklich auf dem Holzweg war.
Und genau das wurde auch im Buch beschrieben:
„Der Tod ist die Bedingung, die es für uns möglich macht, das Leben auf Authentische Art und Weise zu leben!“.
Irgendwie klar, denn hätten wir ein unendliches Leben, gepaart mit unendlicher Gesundheit, hätte wenig eine Relevanz, da jeder Moment unendlich wiederholt werden kann.
Doch wir haben nur eine Zeitspanne auf dieser Welt, ein Leben, das wir gestalten dürfen und gerade das gibt ihm den Wert.
„Wenn der Tod ausgeschlossen wird, wenn man aus den Augen verliert, was auf dem Spiel steht, verarmt das Leben!“
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Die Angst vor dem Tod
Die existenzielle Psychotherapie sieht die Angst als treibende Kraft für pathologisches Handeln. Dabei wird zwischen Angst und Furcht unterschieden. Furcht ist dabei immer vor etwas, während die Angst vor dem Nichts ist. Die Angst vor dem Tod, die Angst plötzlich nicht mehr zu sein, ist keine greifbare Angst. Wir können nicht vorhersehen, wie der Tod sein wird. Um mit dieser Angst umzugehen, kann diese in Furcht vor etwas umgewandelt werden, sodass wir etwas haben, an dem wir uns abarbeiten können. Im Falle des Todes wäre es z.B. die Furcht vor Hilflosigkeit oder der eigenen Vernichtung.
Ich kenne diese Theorie unter dem Begriff Stellvertreterkonflikt– wenn uns ein Konflikt unlösbar erscheint, suchen wir uns einen anderen, vermeintlich einfacheren, um dort unseren Frust abzuarbeiten. Das Problem dabei ist nur, dass es uns im Stellvertreterkonflikt deutlich schwerer fällt, die Quelle unserer Gefühle herauszufinden und diese erfolgreich einzuordnen und zu verarbeiten. Im ungünstigen Fall ein Quell für weiteren Konsum psychoaktiver Substanzen um genau mit diesen Gefühlen umzugehen.
Je nach unserer eigenen Biografie sehen wir uns unterschiedlich stark mit der Angst vor dem Tod konfrontiert. Ich selbst habe glücklicherweise keine Trauerfälle erlebt, die mich vor besonderen Verarbeitungsschwierigkeiten gestellt haben. Somit hat es diese Lektüre gebraucht, um dieses Thema zu sezieren. Anderen Menschen kann es da deutlich anders ergehen. Wie schon oben beschrieben, sehe ich bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankung eine besondere Konfrontation mit dem Tod, da er sehr allgegenwärtig sein kann.
An dieser Stelle sei vielleicht erwähnt, dass Yalom ein bedeutender Psychoanalytiker war. Da ich selbst jedoch verhaltenstherapeutisch ausgebildet bin, habe ich bei der Lektüre immer wieder gemerkt, dass die Denkweise meiner eigenen häufig abweicht. Trotz allem empfinde ich das Thema als sehr bereichernd und begegne es gerne mit einer Offenheit, nicht um mein eigenes Wissen über Bord zu werfen, sondern um es mit neuen Gedanken zu ergänzen.
Tod – nicht mit mir!
Dass wir Themen wie den Tod am liebsten nicht angehen, liegt wohl in der Natur der Sache. Um der Angst vor dem Tod zu entgehen, beschreibt Yalom zwei unterschiedliche Abwehrstrategien – die persönliche Besonderheit und Unverletzlichkeit und die Existenz des letzten Retters. Beides Narrative, zu denen mir sofort ehemalige Fälle eingefallen sind.
Wenn ich an persönliche Unverletzlichkeit denke, erscheint vor meinem inneren Auge sofort Tim*, mit dem ich seinen hohen Konsum von Benzodiazepinen, zu denen sich ab und zu auch noch Opioide mischen, in Rahmen der Drogenberatung besprochen habe. Ein Konsum, der potenziell tödlich enden kann. Ich kann mich noch wie heute daran erinnern, dass er der festen Überzeugung war, dass diese Gefahr für ihn nicht besteht. Er kenne sich mit den Substanzen aus – was soll schon passieren.
Gerade der Gedanke der eigenen Unverletzlichkeit zieht sich, wenn man darüber nachdenkt, wie ein roter Faden durch den Konsum. Sei es die Erkenntnis, dass die schrecklichen Bilder der körperlichen Konsequenzen des Rauchens nicht wirken (Hat ja nichts mit mir zu tun!) oder der andauernde Konsum, obwohl man selbst Nahtoderfahrungen gemacht hat oder Freunde aufgrund des Konsums sterben sehen musste.
Den Konsum aufgrund solcher Erfahrungen aufzugeben, würde außerdem die eigene Besonderheit infrage stellen. Eine Zwickmühle.
Trotzdem gibt es auch genügend Betroffene, die nach so einem traumatischen Ereignis die Motivation ziehen, eine Therapie ernsthaft anzugehen oder ihren Konsum mit anderen Methoden aufgeben.
Sie heilen meine Sucht!
Die zweite Abwehrstrategie ist der Glaube an die Existenz eines letzten Retters. Eine Methode, die seit Jahrtausenden Teil der Menschheitsgeschichte ist und vor allem in den verschiedenen Religionen stark vertreten ist. Gemeint ist der Glaube an eine Macht oder ein Wesen, das uns ewig beobachtet, liebt und beschützt. Allerdings kann der letzte Retter auch im weltlichen Kontext gesehen werden, sei es in einem Partner, in der Therapeutin oder in unseren Eltern.
Yalom beschreibt den Glauben an den letzten Retter als deutlich weniger wirksame Abwehrstrategie, da sie deutlich einfacher zusammenbrechen kann. Obendrein drückt es die Person in die Passivität. Die eigene Zufriedenheit und die Gestaltung des Lebens hängt plötzlich von einer anderen Person ab. Ein fragiles Konzept.
Trotzdem kennen wohl viele Therapeuten Patienten, die erwarten schnell geheilt zu werden (Passivität!) oder maßgeblich die Therapeutin für eine Besserung der Erkrankung verantwortlich machen und ihre eigene Leistung nicht sehen wollen. Die Enttäuschung, dass ich keine schnelle Lösung für die Sucht aufbieten kann und dies nur unter Eigenarbeit geschehen kann, musste ich in meiner Berufspraxis schon öfters auffangen.
Der Weg zur Akzeptanz
„Seinen Tod zu akzeptieren, bedeutet sich mit unterschiedlichen Wahrheiten auseinanderzusetzen, die ihr eigenes Kraftfeld der Angst hat: Dass man endlich ist, dass unser Leben wirklich zu Ende geht, dass die Welt dennoch weiter bestehen wird, dass man einer unter vielen ist“
Wie schon oben erwähnt, kann die Auseinandersetzung mit dem zu einer bewussten, erfüllten und authentischen Gestaltung des eigenen Lebens führen. Der Weg dorthin kann jedoch steinig sein und andere Ängste hervorrufen, die es durchzuarbeiten und zu akzeptieren gilt.
Den Tod nicht mehr als Tabuthema zu deklarieren, sondern im offen gegenüberzustehen, ist meiner Meinung nach der erste Schritt, dass dieses existenzielle Thema im eigenen Leben, aber auch in der Therapie seinen Platz findet.
Wenn ich mit meinem jetzigen Wissen an meine ehemaligen Klienten denke, bedauere ich es etwas vor dem Thema zurückgeschreckt zu sein. In der Regel wurde der Tod im Rahmen von suizidalen Gedanken thematisiert. Diese gilt es für mich natürlich ordentlich zu prüfen und in Notfall Maßnahmen zu ergreifen. Doch vor allem wenn keine Suizidalität vorliegt und es eher ein Ausdruck von Lebensmüdigkeit diente, wäre das ein guter Anknüpfungspunkt gewesen, um das Thema im Allgemeinen mal anzusprechen.