Auf einer Reise begegnete mir der 82-jährige Antonio (Name geändert), ein Mann, der seit vielen Jahren die Welt in seinem Camper bereist. Schönheit ist ihm wichtig, das sieht man schon allein an seinem Camper – etwas Stilvolleres habe ich wirklich noch nie gesehen! Er lacht viel, liebt feines Essen, und sobald er sich in die Sonne auf seinen Klappstuhl setzt, ist eines gewiss: das Glas Wein neben ihm. Während unserer gemeinsamen Reise wurde schnell klar, dass der Weinkonsum eine zentrale Rolle in seinem Alltag spielt. Die Besorgung in einem Land, das jetzt nicht gerade für seine Weinkultur bekannt ist, wird priorisiert. Findet er einen Supermarkt mit einem Angebot, wandern schnell mal 14 Flaschen in den Einkaufswagen, die dann wiederum zügig geleert im Mülleimer landen.

Als wir an einem Tag um 13 Uhr ein Restaurant verließen, das er schon bewaffnet mit einer Flasche Wein betrat, strahlte er mich an und sagte:

„I like to be a drunk man!”
(Dt. „Ich mag es, ein betrunkener Mann zu sein.“)

Dieser Satz hat mich nicht mehr losgelassen. Ein regelmäßiger Konsum von Alkohol befindet sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen Verherrlichung des Konsums, einer immer stärker werdenden Sobriety-Bewegung (positives Einstehen für die Nüchternheit) und der Stigmatisierung von Sucht UND Konsum. Genauso gemischt sind auch meine Gefühle zu dieser Aussage – ein guter Grund, die unterschiedlichen Aspekte auseinanderzunehmen.

82 Jahre – lohnt sich eine Konsumveränderung noch ?

„Ach, lass ihn doch. Mit 82 Jahren muss man sich doch um den Alkoholkonsum keinen Kopf mehr machen.“ Diese Haltung begegnet mir häufig, wenn es um ältere Menschen mit hohem Alkoholkonsum geht. Tatsächlich gibt es für diese Einstellung auch wissenschaftliche Evidenz. In der Studie Population-level risks of alcohol consumption by amount, geography, age, sex, and year: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2020 wird untersucht, wie hoch das Risiko von Alkoholkonsum wirklich ist – und zwar nach Alter, Geschlecht und Wohnort. Ein Standarddrink beträgt dabei 10 g Ethanol (entspricht 250 ml Bier). Die unten gezeigte „Non-drinker equivalence“ bedeutet, dass ein täglicher Konsum von x Gramm Ethanol das gleiche physische Gesundheitsrisiko aufweist wie das eines Nicht-Trinkers.

Für Antonio bedeutet das: 63 g Ethanol pro Tag entsprechen dem gleichen Risiko eines Nicht-Trinkers. Das entspricht etwa 660 ml Wein täglich. Da muss man sich ja dann keinen Kopf mehr drum machen, oder?

Naja. Die Studie schaut sich vereinfacht gesagt an, wie viele Jahre seines Lebens man durch Alkoholkonsum noch negativ beeinflussen könnte oder eben verliert. Mit 82 Jahren liegt Antonio jedoch schon über der durchschnittlichen Lebenserwartung in Europa. Statistisch gesehen gibt es also kaum mehr Jahre zu verlieren. In der Konsequenz bedeutet das, dass 63 g Ethanol pro Tag statistisch nicht mehr ins Gewicht fallen.

Aber: Psychische Auswirkungen wie z.B. depressive Verstimmungen, Vereinsamung, Ängste etc. werden in dieser Studie komplett außer Acht gelassen. Kurz, die Qualität des Lebens fällt außerhalb des physischen Rahmens hinten runter.

Ich finde, diese Studie zeigt gut, wo Statistiken ihre Grenzen haben und warum ein qualitativer Blick sinnvoll ist. Denn auch ein Leben mit 82 Jahren darf sich verändern, wenn die Person es möchte und daraus für sich mehr Glück und Zufriedenheit zieht. Für mich gibt es kein „zu spät“ oder „zu alt“. Ich erinnere mich da immer gerne an einen 75-jährigen ehemaligen Klienten, der in diesem Alter noch eine stationäre Rehabilitation gemacht hat. Mit seiner Nüchternheit konnte er seinen Alltag, seine Ehe und seine Beziehung zu den Enkeln noch einmal richtig genießen.

Menschen mit hohem Konsum sind nicht immer unglücklich

Den vollständigen Artikel findest du hier!

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