Das Wichtigste in Kürze
✓ Die Entscheidung für eine Abstinenz bzw. eine radikale Konsumveränderung ist für Menschen mit einer Suchterkrankung unfassbar schwierig! Es geht nicht um ein rationales Abwägen der Pro- und Contra-Seiten, sondern ist ein ringen mit sich selbst und das trotz gewisser Abstinenzmotivation!
✓ Eine Entscheidung zur Abstinenz oder einem radikal veränderten Konsumverhalten kann gleichzeitig auch Scham und Schuldgefühle auslösen, die die Aufrechterhaltung der Abstinenz erschwert.
✓ Du findest solche Inhalte spannend? Dann schau doch gerne bei Steady vorbei! Melde dich beim kostenlosen Newsletter an und bekomme solche Artikel direkt in dein Postfach!
Inhalt
> Wenn es „klick“ macht und sich trotzdem nichts ändert…
> Was bedeutet es überhaupt, sich zu entscheiden?
Wenn es „klick“ macht und sich trotzdem nichts ändert…
Theo sitzt mir gegenüber. „Ich höre jetzt auf! Ich habe keine Lust mehr weiterzukonsumieren. Ich bin so fertig. Jetzt meine ich es wirklich ernst.“ Wir erkunden diese Gedanken in der Beratungsstunde, überlegen die nächsten Schritte. Theo verlässt das Beratungszimmer entschlossen – nur um einen Tag später seine Vorsätze doch wieder zu verwerfen.
(Alle Fallbeispiele/Namen sind fiktiv und nur aus der Praxis inspiriert.)
Solche Situationen sind im Umgang mit Betroffenen häufig. Es scheint endlich „klick“ gemacht zu haben, der Wunsch nach Veränderung ist formuliert – und doch bleibt die Umsetzung aus.
Die Entscheidung, sich aus dem Suchtkreislauf zu befreien und den Konsum radikal zu verändern, ist komplexer, als es von außen erscheinen mag. In diesem Artikel möchte ich die DNA dieser Entscheidung analysieren: Warum fällt sie so schwer? Und welche Konsequenzen bringt sie mit sich?
Was bedeutet es überhaupt, sich zu entscheiden?
Die Erkenntnis allein führt nicht automatisch zu einer Entscheidung. Theo hat verstanden, dass sein Konsum ihm schadet. Doch eine Entscheidung bedeutet mehr als das: Sie erfordert, sich auf einen Handlungsverlauf einzulassen.
Viele Menschen stehen vor Entscheidungen wie vor einem Felsspalt, über den sie theoretisch drüberspringen könnten, aber die Tiefe des Abgrunds sie dann doch verunsichert. Sie nehmen Anlauf, zögern aber im letzten Moment und bleiben lieber auf der sicheren Seite.
Die Entscheidung ist die Brücke zwischen Wünschen und Handlung!
In meiner aktuellen Lieblingslektüre “Existenzielle Psychotherapie”, auf der dieser Artikel heute auch wieder beruht, werden fünf unterschiedliche Typen von Entscheidungen beschrieben.
- Vernünftige Entscheidung. Wir wägen Für und Wider ab und entscheiden uns für die Lösung, die uns am besten erscheint. Es ist eine freie Entscheidung.
- Willentliche Entscheidung. Mühsam und mit einem Gefühl innerer Anstrengung baut sich ein Willen Stück für Stück auf. Selten! Die Meisten
- Ziellose Entscheidung. Wir entscheiden zufällig, von außen bestimmt, ohne selbst eine Richtung vorzugeben.
- Impulsive Entscheidung. Wir wissen nicht, wie wir entscheiden sollen, und tun dies dann impulsiv. Jedoch von innen heraus.
- Entscheidung auf der Grundlage eines Perspektivwechsels. Eine Entscheidung, die aufgrund einer wichtigen Erfahrung oder inneren Wandels geschieht. (Darüber haben wir schon im Artikel zum Tod und der Sucht gesprochen.)
Die Entscheidung, einen Konsum radikal zu verändern, basiert meist entweder auf einem Perspektivwechsel (z.B. Erfahrung einer festen Bindung, Tod eines Freundes durch Drogenkonsum, Elternschaft etc.) oder auf einer willentlichen Entscheidung – häufig auch einer Kombination aus beiden.
Besonders das Bild der willentlichen Entscheidung – eines sich aufbäumenden, kämpfenden Willens – ist für viele Betroffene sowie Fachkräfte in der Begleitung dieses Prozesses sicher gut nachvollziehbar.
Warum fällt die Entscheidung so schwer?
Der Verlauf einer Abhängigkeitserkrankung ist ein schmerzhafter Prozess, für die betroffene Person, aber auch für das Umfeld. Vor allem, weil die Lösung so greifbar scheint – einfach mit dem Konsum aufhören.
Doch es ist nicht einfach und für die Betroffenen häufig einer der schwersten Entscheidungen, die sie in ihrer Situation treffen müssen. Gründe gibt es hierfür zahlreiche.
In erster Linie gilt es sich zu fragen, was die Entscheidung für die betroffene Person bedeutet. Denn auch wenn es von außen nicht nachvollziehbar scheint, erfüllt der Konsum viele positive Aspekte. Sei es das Abschwächen von Symptomen von anderen psychischen Erkrankungen, die soziale Zugehörigkeit, die beruhigende Wirkung, eigene Introvertiertheit überwinden – die Liste ist hier für Betroffenen unterschiedlich lang und ausgeprägt.
Diese Ambivalenz thematisiere ich in der Suchtberatung oft mit einer Vierfeldertafel, in der kurz- und langfristige, positive und negative Konsequenzen des Konsums herausgearbeitet werden. Die meisten Klient:innen verlassen eine solche Session mit der Erkenntnis, dass die Pro-Seite für sie überwiegt. Doch das führt in der Regel nicht zu einem sofortigen Konsumstopp. Ein weiterer Hinweis, dass es hier nicht um eine vernünftige Entscheidung geht, bei der einfach Vor- und Nachteile abgewogen und die bessere Option gewählt wird. Vielmehr sehe ich diese Intervention als eine Stärkung des sich aufbäumenden Willens.
Eine Entscheidung zu einer radikalen Konsumveränderung ist auch eine Entscheidung zu einer starken Veränderung des Lebensalltags. Eine Entscheidung, die für manche Betroffenen eine Grenzerfahrung darstellen kann. Es heißt ein anderes Leben loszulassen und einem neuen Leben Raum zu geben. Mit all den Unsicherheiten und Ängsten. Es ist ein Schritt ins Unbekannte – eine Entscheidung, die sich nicht einfach mit einer Pro-Contra-Liste treffen lässt.
Die Verantwortung einer Entscheidung
Mit einer Entscheidung kommt Verantwortung: Verantwortung für die nächsten Schritte, aber auch Verantwortung für die Vergangenheit.
Ein Mensch, der lange mit einer Abhängigkeit gelebt hat und es nun schafft, sich daraus zu befreien, könnte sich fragen: Warum habe ich das nicht früher getan? Die Erkenntnis, dass die eigene Befreiung immer möglich war, kann Schuld- und Schamgefühle auslösen.
Die Entscheidung zur Veränderung bringt damit auch oft Trauer mit sich – Trauer um die verlorene Zeit, verpasste Chancen und das, was hätte sein können. Denn wenn die Entscheidung gefallen ist und erfolgreich umgesetzt wurde, stellt sich oft die Frage: Warum hat es so lange gedauert? Ein Aspekt, der in der Behandlung gewürdigt, bearbeitet und begleitet werden muss.
Doch jede Entscheidung für Veränderung, so schwer sie auch sein mag, ist ein Schritt hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Selbst wenn der Weg dorthin von Rückschlägen geprägt ist, bedeutet jeder Moment der Reflexion, jede neue Erkenntnis, dass Veränderung möglich ist. Menschen, die den Mut aufbringen, eine solche Entscheidung mit all ihren wunderbaren und manchmal harten Konsequenzen zu treffen, kann vor allem eins auf sich sein – mächtig stolz!