Home » Psychoaktives Magazin » Weltstoff (Aktuelles) » Haftbefehl – Ist Vormundschaft die Lösung für Suchterkrankungen?

Das Wichtigste in Kürze

✓ In der Haftbefehl-Doku unterschreibt Aykut Anhan ein Dokument, das seinem Bruder weitreichende Entscheidungsbefugnisse überträgt – ohne zu wissen, was er unterschreibt. Er bewertet diesen Schritt später als lebensrettend.

✓ In Deutschland gibt es Vormundschaft nur für Minderjährige. Für Erwachsene existiert dieses Instrument nicht – stattdessen gilt das Betreuungsrecht, das seit 2023 konsequent auf den Willen der betroffenen Person ausgerichtet ist.

✓ Eine rechtliche Betreuung bedeutet keine Entmündigung. Angehörige können hierzulande nicht eigenständig entscheiden, ob jemand in einer Klinik bleiben muss. Zwangsmaßnahmen sind nur in eng begrenzten Notsituationen möglich und immer richterlich zu genehmigen.

✓ Der Fall wirft zentrale ethische Fragen auf: Darf man Menschen mit Sucht überhaupt „zu ihrem Schutz“ in ihrer Autonomie einschränken? Moderne Suchtethik betont, dass Ambivalenz kein Grund ist, Entscheidungshoheit zu entziehen – Recovery braucht Selbstbestimmung, nicht Kontrolle.


Inhalt


Wie überträgt Haftbefehl seine Vormundschaft auf seinen Bruder?

Die Haftbefehl Dokumentation erregt gerade viel Aufmerksamkeit. Sie zeigt einen schonungslosen Einblick in das Leben von Aykut Anhan, der mit seiner Kokain-Sucht und Depression kämpft bis er am Ende von seinem Bruder in die Türkei gebracht wird um sich dort in einer Klinik behandeln zu lassen. Genau auf diese Szene möchte ich in diesem Artikel gerne den Scheinwerfer richten, denn hier passiert etwas, von dem ich mir gewünscht hätte, es würde mehr in der Dokumentation diskutiert. Aykuts Bruder legt ihm in der Klinik ein Dokument zur Unterschrift vor, Aykut liest es nicht, unterschreibt und erfährt später, dass er damit die rechtliche Kontrolle über zentrale Entscheidungen an seinen Bruder abgegeben hat. In der Dokumentation heißt es, dass dem Bruder die Vormundschaft übertragen wurde. Als Aykut doch nicht in der Klinik bleiben wollte, konnte er die nicht mehr frei entscheiden. In der Doku sagt Aykut rückblickend, dass genau dieser Schritt sein Leben gerettet habe. Gleichzeitig öffnet die Szene ein schwieriges Feld: Kann die Übertragung von Verantwortung eine Lösung sein für die Ambivalenz, die viele Menschen in einer Suchtkrise erleben? Und wo verläuft die Grenze zwischen notwendigem Schutz und dem Eingriff in die Selbstbestimmung?


Kennen wir das nicht schon von Britney Spears?

Solche Fälle wecken unweigerlich Erinnerungen an prominente Geschichten wie die von Britney Spears, deren „conservatorship“ in den USA jahrelang tief in ihr privates und berufliches Leben eingegriffen hat. Die Parallelen liegen auf der Hand: Eine Person in einer Krise, ein rechtliches Konstrukt, ein Angehöriger, der plötzlich weitreichende Entscheidungen trifft. Doch es ist wichtig, die Systeme voneinander zu trennen. Was bei Haftbefehl geschah, fand in der Türkei statt, und Britney Spears war Teil eines US-amerikanischen Systems der rechtlichen Kontrolle über Erwachsene. Sie taugen aber nur begrenzt, um Rückschlüsse auf die Situation in Deutschland zu ziehen. Hierfür müssen wir uns das deutsche System mal anschauen.


INSERT_STEADY_NEWSLETTER_SIGNUP_HERE


Vormundschaft in Deutschland: Gibt es Vormundschaft für Erwachsene?

In Deutschland gibt es Vormundschaft ausschließlich für Minderjährige. Für Erwachsene existiert dieses Instrument nicht, auch wenn der Begriff im Alltag oft anders verwendet wird. Die frühere „Entmündigung“ wurde bereits 1992 abgeschafft und durch das Betreuungsrecht ersetzt. Seit der großen Reform 2023 steht der Wille der betroffenen Person klar im Zentrum. Damit unterscheidet sich die deutsche Rechtslage deutlich von den Fällen, die wir aus internationalen Medien kennen. Es geht nicht darum, einer erwachsenen Person die Kontrolle zu entziehen, sondern darum, sie in Bereichen zu unterstützen, in denen sie Entscheidungen ohne Hilfe nicht treffen kann.


Was leistet das Betreuungsrecht in Deutschland?

Eine rechtliche Betreuung wird in Deutschland nur eingerichtet, wenn jemand aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Behinderung einzelne Angelegenheiten nicht selbst regeln kann. Die Person bleibt dabei rechts- und geschäftsfähig; Betreuung bedeutet keine Entmündigung. Auch Eingriffe in medizinische Entscheidungen dürfen nicht „einfach so“ erfolgen, sondern müssen sich am ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Person orientieren. Selbst eine Behandlung gegen den Willen ist nur bei unmittelbarer Selbst- oder Fremdgefährdung und nach richterlicher Genehmigung überhaupt denkbar. Eine Suchterkrankung per se reicht in der Regel nicht um eine zwangsmäßige Unterbringung aufgrund von Selbstgefährdung zu rechtfertigen. Modelle, in denen Angehörige eigenständig entscheiden, ob jemand im Krankenhaus bleiben muss, sind in Deutschland so nicht möglich. Das Betreuungsrecht ist ein Schutzinstrument – aber kein Kontrollwerkzeug.


Ich war bei ZDF Heute und wurde zu Kokain und Sucht im Kontext der Haftbefehl Dokumentation befragt. Hier findest du das Video.


Darf man Menschen mit Suchterkrankung die Entscheidungshoheit nehmen?

Die Szene aus der Dokumentation berührt einen Kernkonflikt, der im Suchtkontext immer wieder auftaucht: Darf man Menschen in einer Krise durch Eingriffe schützen, die sie selbst vielleicht nicht wollen? Die moderne Suchtethik betont, dass Ambivalenz ein fester Bestandteil des Veränderungsprozesses ist und keine Begründung, um Menschen ihre Entscheidungshoheit abzusprechen. Gleichzeitig wissen wir aus der Forschung, dass paternalistische Maßnahmen langfristig selten stabile Veränderungen erzeugen. Selbstbestimmung ist ein zentraler Faktor für Recovery, verbunden mit Identität, Vertrauen und Selbstwirksamkeit. Der Diskurs über Sucht darf deshalb nicht in die Richtung rutschen, Menschen per se als nicht entscheidungsfähig zu betrachten, nur weil sie ambivalent sind. Es geht vielmehr darum, Unterstützung so zu gestalten, dass sie Selbstbestimmung stärkt – nicht ersetzt. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass vor allem Angehörige gut in dieser Zeit unterstützt werden müssen. Der Wunsch, suchtbetroffenen Menschen die Entscheidungshoheit über ihr Leben absprechen zu wollen, wird häufig aus einer großen Hilflosigkeit der Angehörigen geboren. Sucht betrifft nicht nur die erkrankte Person, sondern das System drum herum und genau dieses gilt es mit aufzufangen.

Psychoaktiv braucht Deine Hilfe!

Meine Arbeit finanziert sich durch Mitgliedschaften.

Werbefrei, Bonusfolgen & exklusive Inhalte – werde Teil von Psychoaktiv+ und unterstütze meine Arbeit! Deine Unterstützung hilft mir, Psychoaktiv langfristig zu finanzieren und weiterzuführen!

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *