Home » Psychoaktives Magazin » Suchttherapie » Das Suchtgedächtnis – was ist es und kann man es löschen?

Das Wichtigste in Kürze

✓ Das Suchtgedächtnis ist eine Metapher, die verschiedene neurobiologische Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht zusammenfasst.

✓ Zu den Theorien gehören: Liking & Wanting, das Cue Reactivity Modell, Das Modell der subkortikalen Sensitivierung und das Dual Process Modell. Alle werden in diesem Beitrag genauer erklärt.

✓ Kann man das Suchtgedächtnis löschen? Der schrittweise Aufbau neuer Routinen – von Basisaktivitäten über soziale Interaktion bis hin zu individuellen Highlights – hilft dabei, das Belohnungssystem nachhaltig zu restrukturieren und die Kontrolle über das eigene Verhalten zurückzugewinnen.

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Das Suchtgedächtnis – eine Metapher für unterschiedliche Theorien

Der Begriff des Suchtgedächtnis soll in der Regel langfristigen neurobiologischen Veränderungen beschreiben, die das Suchtverhalten erklären. Also sowohl den wiederholten Substanzkonsum, als auch den Suchtdruck und das zwanghafte Verlangen auch nach langer Abstinenz bestehen bleiben können. Das Suchtgedächtnis wird dabei als unlöschbar bezeichnet. Etwas, was sich in ein süchtiges Gehirn einnistet und dieses unfrei macht. Doch was genau ist dieses Suchtgedächtnis denn wirklich?

Der Begriff Suchtgedächtnis wird in der Praxis deutlich häufiger verwendet, als dass er in der Suchtforschung eine tatsächliche Rolle spielt. Dies liegt daran, dass der Begriff äußerst ungenau ist. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht: Frage 3 Fachkräfte, was das genau Suchtgedächtnis ist, erhalte 3 komplett unterschiedliche Antworten. Dieses Phänomen entsteht unter anderem daraus, dass der Idee des „Suchtgedächtnisses“ nicht nur eine, sondern mehrere Theorien zugrunde liegen. Diese möchte ich in diesem Artikel gerne vorstellen.


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Das Cue Reactivity-Modell der Sucht

Dieses Modell beschreibt Sucht als eine klassisch konditionierte Reaktion. Bestimmte Reize (z. B. Orte, Menschen oder Emotionen) können intensiven Suchtdruck (Craving) auslösen, da diese Reize mit ehemaligen Konsumsituationen verbunden werden. Eine EEG-Studie von Böning (2002) zeigte, dass alkoholabhängige Probanden bei alkoholassoziierten Bildern deutlich stärkere Amplitudenausschläge kognitiver Wellen zeigten als eine Kontrollgruppe.

Das Gehirn merkt sich also in welchen Situationen konsumiert wurde und geht davon aus, dass dies wieder passiert. Hieraus entsteht dann ein starkes Verlangen erneut zu konsumieren.


Das Modell der subkortikalen Sensitivierung als Suchtgedächtnis

Hierbei wird angenommen, dass das Belohnungssystem durch Substanzkonsum hypersensitiviert wird. Diese Sensitivierung ist kontextspezifisch: Je ähnlicher eine aktuelle Situation der früheren Konsumsituation ist, desto stärker wird das Verlangen. Um so weniger ähnlich die Situation, desto geringer auch die Belohnungserwartung.

Während das Cue-Reactivity-Modell sich auf die konditionierten Reize beschränkt, geht die subkortikale Sensitivierung einen Schritt weiter und nimmt eine anhaltende Veränderung des Belohnungssytems an.


Das Dual-Process-Modell der Sucht

Das Dual-Process-Modell bezieht sich auf unsere Informationsverarbeitung. Dabei wird zwischen Automatic Processing und Controlled Processing unterschrieben. Beim Controlled Processing wird eine bewusste Handlung vorgenommen, während Automatic Processing hochgradig automatisierte Prozesse sind. Diese Theorie ist nicht nur auf die Sucht anwendbar. Wenn wir das Autofahren lernen, ist dies am Anfang eine bewusste Handlung (controlled processing). Durch ständige Wiederholung, geht das Autofahren uns sozusagen in Fleisch und Blut über. Wir müssen nicht mehr darüber nachdenken (automatic processing).

Diese Theorie ist auch auf den Konsum anwendbar. Bei einer Suchtentwicklung wird davon ausgegangen, dass mit der Zeit der Griff zum Glas immer automatisierter stattfindet bis man gar nicht mehr darüber nachdenkt. Es webt sich in den Alltag ein und erfordert keinerlei Gedächtnisleistung mehr.

Das Trinken zu verlernen wird dabei als genauso unmöglich eingestuft wie das Autofahren zu verlernen.


Von Liking zu Wanting in der Sucht

Das „Wanting & Liking“-Modell unterscheidet zwischen dem tatsächlichen Genuss einer Substanz oder Handlung und dem inneren Drang, diese zu konsumieren. Es bietet damit eine präzisere Sicht auf die motivationale Dynamik hinter Suchtverhalten.

Liking beschreibt das unmittelbare Empfinden von Freude oder Genuss, das durch bestimmte Reize ausgelöst wird – beispielsweise der angenehme Geschmack eines Stücks Schokolade. Verantwortlich dafür sind sogenannte hedonische Hotspots im Gehirn, die durch Neurotransmitter wie Opioide und Endocannabinoide aktiviert werden. Dabei geht es jedoch ausschließlich um den Genussmoment selbst, nicht um die Motivation, diesen zu wiederholen. Dopamin spielt hierbei eine untergeordnete Rolle, da es nicht direkt mit dem Wohlgefühl verknüpft ist.

Wanting hingegen beschreibt das Verlangen, eine bestimmte Handlung auszuführen, selbst wenn diese nicht mehr den erwarteten Genuss bringt. Gesteuert wird dieser Mechanismus vom dopaminergen System, das frühere Belohnungserfahrungen abspeichert und das Verlangen nach einer Wiederholung verstärken kann. Besonders prägend ist, dass dieses Verlangen durch äußere Reize – sogenannte Cues – ausgelöst werden kann. So kann der Anblick oder Geruch eines bekannten Genussmittels das Bedürfnis wecken, es zu konsumieren, selbst wenn kein ursprünglicher Wunsch danach bestand.

Im Kontext der Sucht zeigt sich eine entscheidende Verschiebung: Während das Liking, also die tatsächliche Freude am Konsum, allmählich nachlässt, bleibt das Wanting auf hohem Niveau oder wird sogar intensiver. Dadurch bleibt der Drang nach der Substanz bestehen, obwohl sie längst nicht mehr die gleiche Befriedigung bringt.


Was bedeutet das nun für das Suchtgedächtnis?

Das Suchtgedächtnis dient als Metapher um neurobiologische Ansätze in der Suchtentwicklung zu erläutern. Allerdings werden mehrere Theorien angewandt um diese Metapher mit Inhalt zu füllen. Das macht sie ungenau und als wissenschaftliches Konstrukt dementsprechend ungeeignet. Behauptungen, dass das „unlöschbare Suchtgedächtnis“ die wissenschaftliche Erklärung sei, dass eine dauerhafte Abstinenz zwingend notwendig ist, empfinde ich dementsprechend als fehlerhaft. Vor allem wenn man mir nicht mal erklären kann, was das Suchtgedächtnis sein soll ;).

Hierbei kritisiere ich jedoch nur die inflationäre Nutzung des Begriffs. Denn die Theorien, die hinter dem Suchtgedächtnis stehen, sind absolut valide und eine Erklärung, warum die Aufrechterhaltung der Abstinenz und die Konsumkontrolle bei Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung aufgrund neurobiologischer Veränderungen so sehr erschwert sind. Vielen betroffenen Menschen hilft die Metapher des Suchtgedächtnisses dazu, genau diese besser zu verstehen. Denn sind wir mal ehrlich: unter Suchtgedächtnis kann man sich eher etwas vorstellen, als wenn ich von einer subkortikalen Sensitivierung spreche.

Die Einordnung des Suchtgedächtnisses als Metapher und nicht als wissenschaftlicher Konsens für eine klare Theorie empfinde ich jedoch als notwendig und sehe ich in der Praxis leider wenig.


Kann man das Suchtgedächtnis löschen?

Trotz allem stellt man sich vielleicht nun die Frage, ob man das Suchtgedächtnis, also die Veränderung in unserem Belohnungssystem und starken internalisierten psychischen Mechanismen der Sucht, löschen kann. Hier habe ich vor einiger Zeit eine spannende Dissertation von Andrada Andrea Bachmann aus dem Jahr 2020 gefunden. Bachmann arbeitet in dieser heraus, dass Menschen mit einer Suchterkrankung, alternative, belohnende Aktivitäten systematisch aufzubauen sollten, um das Suchtgedächtnis schrittweise zu überschreiben. Dies sollte systematisch passieren. An der Basis stehen grundlegende Tätigkeiten wie Bewegung und stabile Alltagsroutinen, die für körperliche und mentale Stabilität sorgen. Darauf aufbauend folgt die Ebene sozialer Aktivitäten, emotionaler Kompetenz und beruflicher Sinnhaftigkeit, die dazu beitragen, das Selbstwertgefühl und die soziale Integration zu stärken. An der Spitze der Pyramide stehen individuelle Highlights – besonders erfüllende und motivierende Aktivitäten, die langfristig als neue, gesunde Belohnungen dienen. Dieser schrittweise Aufbau ist essenziell, um das Belohnungssystem nachhaltig zu restrukturieren, Rückfälle zu vermeiden und eine zufriedene Abstinenz zu ermöglichen. Die Pyramide verdeutlicht, dass es nicht ausreicht, das Suchtverhalten einfach zu unterdrücken, sondern dass neue, positiv erlebte Routinen etabliert werden müssen, um die Dominanz der Sucht im Belohnungssystem zu überschreiben.

Abbildung aus Bachmann, 2020, S.21

Frau Dr. Andrada Andrea Bachmann hat zu diesem Thema übrigens auch ein Therapiemanual herausgegeben. Dieses findest du hier*.

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Quellen für die Podcastfolge und diesen Artikel:

Bachmann, A. A. (2020). Alternative belohnungsfähige Interessen und Aktivitäten – Therapeutische Implikationen zur Annahme eines Suchtgedächtnisses [Dissertation, Universität Bremen]. https://pub.uni-bielefeld.de/record/2991370.

Berridge, K. C., & Robinson, T. E. (2016). Liking, wanting and the incentive-sensitization theory of addiction. American Psychologist, 71(8), 670–679. https://doi.org/10.1037/amp0000059​:contentReference[oaicite:0]{index=0}.

Böning, J. (2002). Neurobiologische Perspektiven für die Suchtforschung und -behandlung am Beispiel des „Suchtgedächtnisses“. In Die Zukunft der Suchtbehandlung – Trends und Prognosen.

Lindenmeyer, J. (2016). Alkoholabhängigkeit (3. Aufl.). Hogrefe.

Rösner, S. (2006). Meta-Analyse zur Wirksamkeit von Acamprosat und Naltrexon in der Entwöhnungsbehandlung alkoholabhängiger Patienten [Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München].

Spanagel, R. (2001). Gibt es ein Drogen- und Suchtgedächtnis? Hinweise aus tierexperimentellen Untersuchungen. Sucht, 47(5), 365–367. https://doi.org/10.1024/SUC.2001.47.5.365

Tretter, F. (2000). Anmerkungen zum Konstrukt „Suchtgedächtnis“. Sucht, 46(4), 276–283. https://doi.org/10.1024/suc.2000.46.4.276

Tretter, F. (2002). Das Suchtgedächtnis: Konzepte, Befunde, Perspektiven. In Neurobiologie der Suchtforschung (S. 54-67).

Vanderschuren, L. J. M. J., Schmidt, E. D., De Vries, T. J., van Moorsel, C. A. P., Tilders, F. J. H., & Schoffelmeer, A. N. M. (1999). A single exposure to amphetamine is sufficient to induce long-term behavioral, neuroendocrine, and neurochemical sensitization in rats. Journal of Neuroscience, 19(21), 9579–9586. https://doi.org/10.1523/jneurosci.19-21-09579.1999

Wolffgramm, J., & Heyne, A. (2000). Kommentar zum Artikel von F. Tretter »Anmerkungen zum Konstrukt ›Suchtgedächtnis‹«. Sucht, 46(4), 284–286. https://doi.org/10.1024/suc.2000.46.4.284

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