Das wichtigste in Kürze
✓ Abstinenz wird im Kontext von Sucht oft als „notwendiges Übel“ verstanden. Nüchternheit kann aber auch eine selbstbestimmte Entscheidung für mehr Lebensqualität, Gesundheit und Freiheit sein.
✓ Die Sobriety-Bewegung versteht Nüchternheit nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Offene Erfahrungsberichte, Gemeinschaft und positive Narrative machen es leichter, neue Perspektiven auf ein Leben ohne Alkohol zu entwickeln.
✓ Nüchternheit ist nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich relevant. Alkohol ist kulturell tief verankert und politisch kaum reguliert – wer nüchtern lebt, fordert neue Räume, mehr Akzeptanz und bessere Schutzmaßnahmen.
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Inhalt
Warum Abstinenz ein neues Bild braucht
Wer im Kontext von Sucht das Wort Abstinenz hört, verbindet damit oft zunächst Verzicht, Kampf oder den lebenslangen Versuch, einer Substanz zu entkommen. Abstinenz erscheint schnell als das „notwendige Übel“, das jene erwartet, die „zu weit gegangen sind“. Diese negative Aufladung kommt nicht von ungefähr: In der Geschichte der Suchthilfe war Abstinenz lange mit Begriffen wie Disziplin, Kontrollverlust oder Abstinenzdruck verknüpft. Dadurch, dass die Abstinenz auch heute noch die Voraussetzung für eine Therapie ist, fühlen sich viele auch in die Abstinenz hineingenötigt, anstatt eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Diese Umstände führen dazu, dass es vielen schwer fällt, Abstinenz auch als was anderes zu sehen, als bloße Schadensbegrenzung.
Dabei lohnt es sich, dieses Bild zu hinterfragen. Denn Abstinenz muss nicht zwangsläufig Ausdruck von Verlust sein. Sie kann auch eine bewusste, selbstbestimmte Entscheidung für mehr Gesundheit, Freiheit und Selbstwirksamkeit sein . Unabhängig davon, ob eine manifeste Suchterkrankung vorliegt oder nicht. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das bislang jedoch selten so erzählt. Viel eher gilt: Wer nüchtern lebt, muss gute Gründe haben. Und die klingen selten nach Freude oder Zugewinn, sondern nach Strafe und Verzicht.
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Die Sobriety-Bewegung – Nüchternheit als Gewinn
In den letzten Jahren hat sich vor allem über soziale Medien eine Bewegung etabliert, die Nüchternheit aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die sogenannte Sobriety-Bewegung – inspiriert vom englischen Begriff sobriety für Nüchternheit – rückt nicht den Verzicht, sondern den Zugewinn in den Mittelpunkt. Statt um ein Leben im ständigen Kampf gegen das eigene Verlangen geht es hier um ein selbstbestimmtes Leben ohne Alkohol. Nicht „Ich muss“, sondern „Ich darf“.
Diese Bewegung unterscheidet sich in mehreren Punkten von der klassischen Suchthilfe. Erstens: Sie ist sichtbar. Menschen sprechen offen über ihre Erfahrungen, mit Klarnamen und Gesicht. Zweitens: Sie erzählt Abstinenz als Chance – nicht als lebenslange Krankheitserzählung, sondern als Weg zu mehr Energie, Klarheit und Lebensqualität. Drittens: Sie denkt Abstinenz auf einem Spektrum. Nicht jede Person, die keinen Alkohol mehr trinkt, hat eine Suchterkrankung durchlebt. Und nicht jede Person, die sich nüchtern nennt, verzichtet dogmatisch auf alle Rauscherfahrungen.
Warum Nüchternheit auch politisch ist
Nüchternheit ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung. Sie ist auch gesellschaftlich relevant und damit politisch. Denn wer nüchtern lebt, stellt sich gegen ein kulturelles Leitbild, in dem Alkohol allgegenwärtig und weitgehend unproblematisch dargestellt wird. Supermärkte, Werbung, Feste, sogar Ärzte tragen dazu bei, dass Alkohol als Normalität inszeniert wird. Wer nicht trinkt, muss sich oft rechtfertigen. Wer nüchtern lebt, gilt schnell als Außenseiter:in.
Dabei geht es längst nicht nur um persönlichen Geschmack, sondern auch um strukturelle Fragen: Altersgrenzen, Verfügbarkeit, Werbung, Kinderschutz. Während wir für Nikotin längst klare Regulierungen haben, bleibt Alkohol weitgehend unberührt. Und das, obwohl die Schäden ebenso gut belegt sind. Die Sobriety-Bewegung macht deutlich: Wer nüchtern lebt, braucht Schutzräume, Akzeptanz und Sichtbarkeit. Das beginnt bei einem respektvollen Umgang im Freundeskreis und endet bei politischen Maßnahmen, die den Zugang zu Alkohol weniger selbstverständlich machen.
Ein nüchternes Leben darf also nicht nur individuell als Gewinn verstanden werden. Es wirft auch Fragen an eine Gesellschaft auf, die den Konsum mehr schützt als die Entscheidung, nicht zu konsumieren.
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